zugehört: Woraus ist Popmusik gemacht?

Teil 4

Tonarten

Player einrichten
Alternative Playlist

Teil 3 hat dargelegt, was es mit Tonleitern und Tonarten prinzipiell auf sich hat, und er hat in Form von Dur und Moll auch schon die beiden wichtigsten Vertreter vorgestellt. Dieser Teil taucht weiter in die Welt der Tonarten ein und beleuchtet diverse Varianten und Gestaltungs­mittel. Es wird nun auch zunehmend die Popmusik in den Fokus rücken, nachdem die ersten drei Teile noch recht allgemein­gültig waren.

Normal ist einfach

Bevor es um Unregel­mäßigkeiten und Alternativen geht, ein kurzer Blick auf das Normale. Soweit es die Tonarten betrifft, ist Popmusik keine Wissen­schaft. Die meisten Songs beruhen auf einfachem Dur oder Moll, behalten eine einzelne Tonart von Anfang bis Ende bei und verwenden nur Töne, die zu dieser Tonart gehören.

Harry Styles
Sign of the Times

Der Song durchläuft eine hübsche Dramaturgie und steigert sich zwischen­zeitlich zum Getöse mit Streichern, Synthesizer­effekten und einem Chor. Aber zur Tonart ist nur eins zu sagen: F-Dur.

Tonleiter

Mancher hat vielleicht die Vorstellung, Popmusik sei eine rebellische und experimentier­freudige Form von Musik. Diesen Eindruck verdankt sie den Aspekten von Musik, die am einfachsten wahrzu­nehmen sind, nämlich Klang und gestalterischem Zierrat. Diesbezüglich ist Popmusik tatsächlich aufwändig. Was dagegen die musikalische Substanz angeht, die Töne und ihre zeitliche Abfolge, sind die meisten Popstücke ausge­sprochen förmlich, einfach und streng.

Pentatonik

Wir haben schon zweimal die Auswahl an Tönen reduziert, um die Harmonie der Musik zu maximieren. Die erste Reduktion in Teil 2 war drastisch: Wir haben die unendlich vielen Töne des Frequenz­spektrums auf nur etwa hundert zusammen­gestrichen, die Töne des chromatischen Systems. Diese Auswahl haben wir hier weiter eingeschränkt. Von den zwölf Tönen einer Periode haben wir mittels Dur- und Moll-Tonleiter fünf wegfallen lassen, sieben sind übrig geblieben.

Manchmal wird das noch weiter getrieben. Es werden nochmals zwei Töne entfernt, nämlich die mit der geringsten Harmonie zu den übrigen. Es verbleiben dann also nur noch fünf Töne pro Periode, eine Penta­tonik. Gegen­über Dur/Moll fehlen die kleinen Sekunden, also die Töne im Abstand eines Halbtons.

Tonleiter Dur

Tonleiter Dur-Pentatonik

Tonleiter Moll

Tonleiter Moll-Pentatonik

Im Gegensatz zu Dur- und Moll-Tonleiter kommt eine Penta­tonik selten konsequent als Tonvorrat für einen ganzen Popsong zum Tragen. Es gibt komplett penta­tonische Kinder­lieder, im Pop hat man es aber eher mit penta­tonischen Passagen zu tun, und auch dort ist nur die Melodie penta­tonisch. Die Begleitung zur Melodie greift weiterhin auf alle sieben Töne der Tonleiter zurück, sonst könnten z.B. die meisten Akkorde nicht gespielt werden. Hier ein Stück, das sich schon weit auf der penta­tonischen Seite bewegt. Der Gesang ist komplett penta­tonisch, und das Gitarren­solo ist es ganz überwiegend auch, nur selten ist dort kurz ein nicht-penta­tonischer Zupfer eingeschummelt.

The Hooters
500 Miles

Modi

Neben Dur und Moll existieren noch andere Tonleitern, die sind nur weniger gebräuchlich. Von einigen davon wissen wir im Prinzip schon. Wir hatten in Teil 3 gesehen, dass die Leitern von Dur und Moll bei periodischer Wieder­holung das gleiche Muster aufweisen, sich also nur in der Wahl des Grundtons unterscheiden. Das Muster hat aber noch fünf weitere Töne, die ebenfalls als Grundton gewählt werden können, was fünf weitere Tonleitern ergibt.

Tonleiter

Eine der Varianten ist eher theoretisch, denn ihr fehlt die (reine) Quinte über dem Grundton und damit ein harmonischer Grund­akkord. (Um Akkorde wird es in Teil 6 gehen.)

Tonleiter und Quinte

Die übrigen vier werden Modi oder modale Skalen genannt, traditionell auch Kirchen­tonleitern. (Der Name rührt daher, dass diese Tonleitern die sakrale Musik des Mittel­alters geprägt haben, bevor Dur und Moll in Mode kamen.)

Alle vier Modi sind in der Popmusik gelegentlich zu hören. Allerdings klingen sie Dur und Moll sehr ähnlich und nur leicht ungewöhnlich. Die Besonderheiten sind für Laien kaum wahrzu­nehmen, was mich einschließt. Deshalb soll eine dieser Tonleitern als Beispiel genügen: die phrygische, die sich nur in einem Ton von der Moll-Tonleiter unter­scheidet:

Tonleiter Moll

Tonleiter Phrygisch

Beispiel Phrygisch

play
Björk
Venus as a Boy

In Moll würde das etwa so klingen

play

Wechsel

Die Tonart eines Stücks ist nicht in Stein gemeißelt, sie kann zwischen­durch wechseln.

Rammstein
Mutter

Die einfachste Variante für einen Tonart­wechsel: es bleibt alles, wie es ist, gleiche Melodie und gleiche Harmonien, nur dass alles auf einen Schlag um ein paar Halbtöne verschoben wird. Die Tonleiter bleibt gleich, aber wegen des geänderten Grund­tons hat man es mit einer anderen Tonart zu tun. Sehr beliebt im Pop ist eine Verschiebung um zwei Halbtöne nach oben, auch bekannt als Truck Driver Modulation, weil es klingt, als würde die Musik einen Gang höher schalten. Meistens in der zweiten Hälfte angesiedelt, um bei den letzten Wieder­holungen des Refrains noch einmal Dampf zuzugeben, hier ziemlich genau zum letzten Drittel hin.

Tonleiter
Roxette
Listen to Your Heart

Das darf nach Pop-Maßstäben schon über­durch­schnittlich komplex genannt werden. Das Stück enthält eine Bridge („And there are voices…“), die zwei Halbtöne über dem vorange­gangenen Teil steht. Danach (zwischen „wilder“ und „than the wind“) geht es nicht etwa die zwei Halbtöne wieder nach unten, sondern weitere zwei Halbtöne nach oben, so dass die hinteren Refrains eine große Terz höher stehen als die vorderen. Das Stück wandert durch drei Moll-Tonarten.

Tonleiter

Eine andere Variante für einen Tonart­wechsel ist, Strophe und Refrain verschieden auszuführen. Das Stück wechselt dann natur­gemäß mehrfach hin und her, und dabei sind sogar Wechsel zwischen Dur und Moll möglich.

Electric Light Orchestra
Turn to Stone

Strophen in Dur, Refrains in Moll. Übrigens einer der seltenen Fälle, in denen der Refrain dünner arrangiert ist als die Strophe.

Tonleiter

Jenseits der Leiter

Die nahe­liegendste Variation einer Tonleiter ist das Einstreuen von Tönen, die nicht dazu gehören. Da der Hörer an die Leitern gewöhnt ist, fällt das schnell auf. Zudem ergeben sich gewisse Dissonanzen, denn der Zweck der Leitern ist ja gerade die Harmonie. Ein Stück kann auf diese Art interessant und ungewöhnlich sein und sich aus dem musikalischen Einheits­brei erheben.

Leiterfremde Töne können sowohl in der Melodie als auch in der Begleitung eingebaut sein, z.B. in den Akkorden. Beides kann ganz dezent erfolgen oder auch im Exzess.

Suede
Trash

Eigentlich ein Dur-Stück, aber kein leiter­fremder Ton bleibt hier verschont. Auffällig ist z.B. im Refrain bei „We're tra-a-ash, you and me“ der harmonische Bruch auf dem „me“.

Tonleiter

Übrigens ist klassische Musik in dieser Hinsicht geradezu wild und progressiv, verglichen mit Popmusik. Der Einsatz leiter­fremder Töne ist dort nämlich keine bemerkens­werte Besonderheit, sondern der Regel­fall.

Anything Goes

Es gibt in der Musik keine Regel, die nicht gebrochen werden könnte. Letztendlich hat das chromatische System zwölf Töne, und es steht jedem Komponisten frei, sich daraus zu bedienen. Die klassischen Tonarten können dabei in weite Ferne rücken, theoretisch bis hin zur völligen Verabschiedung. Popmusik mag nicht der Inbegriff solcher Ambitionen sein, aber wer sucht, der findet vermutlich auch hier jeden erdenklichen Regel­bruch.

Elton John
Nikita

Über weite Strecken eine unauffällige Komposition in althergebrachtem Dur. Für das kuriose Synthi-Solo in der zweiten Hälfte gilt das freilich nicht. (In Teil 7 werden wir sehen, dass der Wahnsinn durchaus Methode hat.)

The Beach Boys
God Only Knows

Ein Vorreiter beim freizügigen Umgang mit der Tonart, veröffentlicht 1966. (Auch dazu mehr in Teil 7.)

Vangelis
Blade Runner (End Titles)

Hier spielt ein Sequencer. Eine kurze Tonfolge läuft in der Dauer­schleife und wird dabei immer wieder um ein paar Halbtöne verschoben. Das Ergebnis hat mit Dur oder Moll wenig zu tun. Das Stück verdankt seine entrückte Atmosphäre also nicht nur dem Klang der Synthesizer.

play
Yes
Don't Kill the Whale

Ohne Worte.